Rezensionen
»Jazz im Totalitarismus«


Jazzthetik 2/2005, S. 66


Mit seiner jüngst veröffentlichten Untersuchung zum Jazz im Totalitarismus geht es Martin Lücke, wie er gesteht, um « keine weitere Darstellung bekannter Tatsachen und Phänomenen ». Einiges wird dann doch wiederholt, was aber kein Schaden ist. Denn was dem Jazz und verwandter Musik von politischer Seite angetan worden ist, darf in seiner Ungeheuerlichkeit nie vergessen werden.

Gerade in der Gegenüberstellung politisch konträrer Systeme, wie sie Lücke hier erstmals überhaupt vornimmt, werden die absurden Abläufe deutlich. Beide Regime, das nationalsozialistische unter Hitler und das kommunistische unter Stalin, lehnen den Jazz ab als Bestandteil amerikanischer Kultur. In stetem „Wechsel zwischen restriktiven und fördernden Maßnahmen“ funktionalisieren sie ihn und gründen als Mittel der Feindpropaganda sogar eigene Swing-Orchester. „Der Jazz wurde in terroristischen und zerstörerischen Machenschaften beider Regime eingebunden“, wird unmissverständlich bilanziert. Selbst für den Jazz positive Dinge zwischen Restriktion und Förderung lässt Lücke nicht gelten. Alles ist für ihn „als Einbeziehung des Genres in die totalitären staatlichen Aktivitäten (zu) interpretieren“. Vor der Gleichsetzung beider Regime, die in Deutschland Tradition hat und immer mal wieder Historikerdebatten auslöst, hütet sich Lücke. Schlüsse muss der Leser ziehen.

Was die Lektüre dieser Dissertation, die sich trotz umfangreicher Quellverweise flüssig lesen lässt, so spannend macht, ist ihre Stringenz und Konsequenz, nicht zuletzt auch ihr Reichtum an Details und differenzierter Betrachtungsweise. Auch die umfassende Materiallage, derer der Autor habhaft werden konnte, beeindruckt. Selbst vor russischen Quellen schreckt er nicht zurück. Starrs Darstellung zum Jazz in der Sowjetunion, die immer wieder zitiert wird, hat Lücke zwar keine neuen Fakten hinzuzufügen, doch setzt er Akzente. In der Gegenüberstellung gehen dem Leser einige Lichter auf. Den Jazz mit Homosexualität, Drogen und bourgeoiser Erotik gleichzusetzen, wie dies in Gorkis maßgeblichem Essay geschieht, war lange sowjetische Jazz-Politik. Dieses Bild könnte ebenso von den Nazis stammen, die diese Musik „entartet“ nannten. Dass der Jazz nicht verboten wurde, wie immer noch vereinzelt angenommen wird, habe damit zutun, vermutet der Autor, dass er hauptsächlich von Mittel- und Oberschicht rezipiert wurde, „aus deren Reihen der spätere politische Nachwuchs rekrutiert werden sollte.“ Vielmehr ging es darum, eine „ideologisch korrekte deutsche Tanzmusik im Rundfunk zu etablieren“. Ähnliche Bestrebungen gab es in der Sowjetunion.

Rolle und Funktion des Jazz in totalitären Systemen werden insgesamt recht anschaulich beschrieben. Verschiedene Vorstellungen und Formen des Jazz in zwei unterschiedlichen Ländern provozierten ähnliche Maßnahmen. Was nicht erstaunlich ist bei einer freiheitlich konnotierten, also alles andere als eine totalitäre Musik. Martin Lückes Arbeit ist verdienstvoll und ergänzt bisherige Forschungen eindrücklich.
- Reiner Kobe

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Jazzpodium 4/2005, S. 62, von Wolfgang Quander

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